Matthias Rüegg ist Experte in Sachen Achtsamkeit. Als Neurofeedbacktrainer beschäftigt sich der gebürtige Schweizer seit einigen Jahren mit Meditation und Achtsamkeit. Mit seinem Startup Fullmind hat er ein innovatives Achtsamkeitstraining für Unternehmen entwickelt, das durch den Einsatz von Neurotechnologie messbar gemacht wird.
Wir möchten wissen, wie genau das funktioniert, welche Herausforderungen die heutige Arbeitswelt mit sich bringt und ob Unternehmen betriebliches Gesundheitsmanagement neu denken müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Zum Schluss gibt es noch einen Tipp vom Experten!
Lieber Herr Rüegg, schön, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Mögen Sie sich kurz unseren Leserinnen und Lesern vorstellen?
Gerne. Ich komme aus dem schönen Luzern in der Schweiz und habe ein breites Spektrum an Interessen. Zunächst habe ich einen Bachelor als Wirtschaftsingenieur absolviert. Meine Begeisterung für Wirtschaft und Finanzen lebe ich in meinem Beruf als Investment Manager aus. Meiner Leidenschaft für Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheit und neue Technologien kann ich als Achtsamkeitstrainer und Geschäftsführer von Fullmind nachgehen. Diese Leidenschaft möchte ich gerne mit den Menschen teilen.
An welchem Punkt in Ihrem Leben haben Sie begonnen, sich mit Achtsamkeit auseinanderzusetzen?
Vor 15 Jahren hat meine Mutter begonnen, als Achtsamkeitstrainerin Kurse zu geben. Damals habe ich die Messbarkeit und Wissenschaftlichkeit solcher Übungen in Frage gestellt. Ich stand Achtsamkeit und Meditation vor allem deshalb skeptisch gegenüber, weil die Qualität vieler Studien mangelhaft war und diese teilweise durch die Kursanbieter selbst finanziert wurden.
Wie hat sich Ihre Skepsis gegenüber Achtsamkeit und Meditation gewandelt?
Heute gibt es genügend randomisierte klinische Studien mit Placebo-Kontrollgruppen, die die positiven Effekte von Achtsamkeit und Meditation bestätigen. Ich habe im Studium selbst gemerkt, dass mir Achtsamkeit und Meditation dabei helfen können, meinen Fokus und meine Leistung zu erhöhen. Die Weiterentwicklung verschiedener bildgebender Verfahren wie MRT (Magnetresonanztomographie) oder EEG (Elektroenzephalografie) ermöglichen es der Wissenschaft, die Effekte von Meditation auf das Gehirn besser zu verstehen.
Inzwischen sind die Messmethoden so weit entwickelt, dass kleine elektronische Hilfsmittel, sogenannte Wearables, ebendiese Effekte sichtbar machen und das Erlernen von Achtsamkeit durch Bio- und Neurofeedback erleichtern. Der technologische Fortschritt und die wissenschaftliche Evidenz haben mich darin bekräftigt, Menschen Achtsamkeit in Kombination mit Technologie näherbringen zu wollen und in diesem Bereich Pionierarbeit zu leisten.
Was macht aus Ihrer Sicht die heutige Arbeitswelt so herausfordernd?
Die schnell wachsenden Informationsmengen verursachen einen Informationsüberfluss, der die mentale Gesundheit der Arbeitenden und auch ihre Produktivität belastet. Dabei stößt unser Gehirn im digitalen Alltag an Grenzen. Das Problem ist, dass die dringlichsten und stimulierendsten Dinge in Ihrer Arbeitsumgebung selten die wichtigsten sind.
Im Homeoffice findet durch die ständige Erreichbarkeit eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit statt: Ständige Erreichbarkeit, Multitasking und zunehmende Kommunikation auf verschiedenen Kanälen machen das Abschalten schwierig. Eine weitere Herausforderung ist der vielerorts gesunkene Zusammenhalt im Team und die Einsamkeit im Homeoffice aufgrund fehlender persönlicher Kontakte.
Diese Belastungen stellen unser Gehirn vor Herausforderungen mit oftmals negativen Begleiterscheinungen wie Schlafproblemen, Bluthochdruck, Stress und Burnout.
Wie kann Achtsamkeit im Beruf dabei helfen, diesen Herausforderungen zu begegnen?
Achtsamkeit schult in erster Linie den Fokus. Fokus erhöht nicht nur die Leistung, sondern ist aus meiner Sicht das effektivste Mittel, um die Entstehung von Stress, Überforderung und Konzentrationsproblemen zu vermeiden und den Umgang mit dem Informationsüberfluss zu verbessern.
Durch Achtsamkeit lernen wir, uns gezielt auf nur eine Sache zu konzentrieren, ohne die Situation zu bewerten. Dieser Fokus ist bei vielen Menschen durch ständige Reize und Ablenkungen wie z.B. Social Media verloren gegangen. Achtsamkeit reduziert Stress, trainiert die Fähigkeit zur Entspannung und fördert damit unsere Gesundheit. Gleichzeitig werden diverse Gehirnnetzwerke aktiviert, die die Resilienz, Emotionale Intelligenz (EQ) und das Arbeitsgedächtnis steigern.
Über die Auswirkungen von Achtsamkeitsübungen auf das Gehirn möchten wir später unbedingt mehr erfahren! Zunächst aber: Glauben Sie, dass viele Unternehmen umdenken müssen, um zukunftsfähig zu bleiben?
Die Arbeit im digitalen Umfeld wird komplexer und verändert sich schneller. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Firmen neue Technologien nutzen und neue Denkweisen zulassen. Dafür braucht es andere Berufs- und Kompetenzprofile als in der Vergangenheit.
Neue Schlüsselkompetenzen wie Durchhaltevermögen, Emotionale Intelligenz und kognitive Flexibilität sollten meiner Meinung nach gefördert werden. Hinsichtlich des Umgangs mit Ablenkung, Motivation und Gesundheit bedarf es neuer Strategien zur Förderung der Eigenverantwortung von Mitarbeitenden.
Wie sieht denn ein effektives Betriebliches Gesundheitsmanagement aus?
Die Gesundheit am Arbeitsplatz sollte kontinuierlich gefördert werden, anstatt nur punktuell zu reparieren. Heute wird oftmals mit ein- oder halbtägigen Events versucht, Mitarbeitende mit neuen Aktivitäten bei Laune zu halten. Oftmals bleiben jene Mitarbeitende, die sich durch ihren vollen Kalender ausgelastet fühlen, von solchen Aktivitäten und Events fern. Darüber hinaus fehlt der Trainingseffekt von einmaligen Events. Es braucht ein Umdenken!
Gesundheitsprävention sollte neu gedacht werden und ein selbstverständlicher Bestandteil des Arbeitsalltags sein. Ein Angebot, dass Mitarbeitenden regelmäßig für mehrere Monate angeboten wird. In Sachen Achtsamkeit sind die USA Europa schon einen Schritt voraus: Dort setzen bereits 52% der großen Unternehmen auf Achtsamkeitsseminare zur Gesundheitsprävention.
Gemeinsam mit Neurowissenschaftlern haben Sie ein Achtsamkeitstraining für Mitarbeitende und Führungskräfte entwickelt. Wie genau sieht das aus?
Unser Hauptprogramm Fullmind Training ist ein messbares 8-wöchiges Gruppentraining, das pro Woche eine Stunde Zeit in Anspruch nimmt. Das Besondere an diesem Achtsamkeitstraining sind die EEG-Wearables, die Teilnehmende während des Trainings auf dem Kopf tragen können und so die Effekte des Achtsamkeitstrainings anschaulich präsentiert bekommen. In einer Web App lassen sich die Fortschritte eines kontinuierlichen Achtsamkeitstrainings komplett anonymisiert tracken.
Im Fullmind Training lernen Teilnehmende, ungewünschte Reaktions- und Handlungs-Muster zu erkennen und diesen mit konkreten Methoden zur Stressreduktion zu begegnen. Das Achtsamkeitstraining basiert auf wissenschaftlichen Studien und trainiert neben Entspannungstechniken verschiedene Meditationsarten mit Neurofeedback.
Können Sie uns näher erklären, inwiefern Achtsamkeit messbar ist?
Wir messen nicht Achtsamkeit selbst, sondern die Effekte von Achtsamkeitstraining. Achtsamkeitstraining aktiviert spezifische Gehirnnetzwerke. Wenn genügend Signale von einem Gehirnareal gleichzeitig gesendet werden, kann man mit EEG-Wearables Gehirnströme auf der Kopfhaut messen und Rückschlüsse über die Gehirnaktivität erzielen.
Kurz gesagt: Durch kontinuierliches Achtsamkeitstraining werden Gehirnareale und Netzwerke gestärkt, die für den Fokus, die Selbstregulierung und die Selbstwahrnehmung verantwortlich sind.
Wie verändert sich das Gehirn bei regelmäßigem Achtsamkeitstraining?
Jedes Gehirn ist unterschiedlich, doch findet man im Achtsamkeitszustand tendenziell mehr Aktivität von Gehirnarealen, die für Entspannung und weniger Aktivität in Arealen, die für die Stressreaktion verantwortlich sind. Studien haben zudem gezeigt, dass im Meditations-Zustand der Anteil an Alpha- und Theta-Gehirnwellen steigt.
Diese Erkenntnisse machen wir uns zunutze, um in der Fullmind Web App Teilnehmenden einen personalisierten Report über das eigene Training zu Verfügung zu stellen. Wer sich für das Thema interessiert, kann in unserem Blog nachlesen, wie Meditation das Gehirn verändert.
Haben Sie zum Schluss noch einen Tipp für unsere Leserinnen und Leser, wie sie achtsamer durch den Alltag gehen können?
Gerne. Sie sollten den Fokus im Alltag immer wieder bewusst schulen. Dies gelingt sehr gut, wenn Sie sich selbst die Frage stellen: ‚Wie ist meine Atmung?‘
Eine schnelle, flache Atmung ist ein Anzeichen für Stress. Durch eine ruhige, langsame Atmung durch die Nase können wir die Stressreaktion reduzieren. Im Kurs üben wir weitere Tools für den Alltag.