Frau traurig am Weihnachtsbaum

Stress in der Weihnachtszeit: Interview mit der Stress-Expertin Julia Cremasco

Lesezeit: 9 Minuten

Du möchtest entspannter und stressfreier durch die Weihnachtstage kommen? Anlässlich unserer Umfrage zum Thema Stress in der Weihnachtszeit haben wir ein Interview mit einer Stress-Expertin geführt. Sie lässt Dich an ihren Erfahrungen und ihrer Expertise teilhaben und gibt Dir hilfreiche Tipps, wie Du besser mit Stress in der Weihnachtszeit umgehst und wie Du die besinnliche Zeit mehr genießen kannst.

Julia Cremasco

Julia Cremasco ist (psycho-) therapeutisch und coachend seit 2010 in eigener Praxis bzw. online tätig. In ihrer Arbeit begleitet sie Menschen in ihren ganz individuellen Veränderungsprozessen. Stressbewältigung, Stärkung von Selbstbewusstsein und Selbstwert sowie das (Wieder-) Finden von mehr Leichtigkeit im Leben sind ihre Kernthemen. Die Stress-Expertin und Heilpraktikerin für Psychotherapie ist für ihre lebensnahe und –bejahende Art bekannt und beliebt.

In ihrem Blog thematisiert Julia Hilfe zur Stressbewältigung, Achtsamkeit und wie man Lebensqualität (wieder-) finden kann.

Hallo Julia, vielen lieben Dank, dass Du Dir die Zeit nimmst für dieses Interview und um uns ein paar Fragen zum Thema Stress in der Weihnachtszeit zu beantworten. Laut unserer Umfrage fühlen sich in der Weihnachtszeit fast 20% stark bis sehr stark gestresst. Wie erklärst Du es Dir, dass bei einem eigentlich so besinnlichen Fest sich doch so viele Menschen gestresst fühlen?

Eine hohe Erwartungshaltung, Perfektions- und Optimierungs-„Wahn“ tragen dazu bei, dass Weihnachten zum Stress-Fest mutiert. Ich bin der Ansicht, dass weniger mehr ist. Müssen es wirklich 20 verschiedene, selbstgebackene Plätzchen zu Weihnachten sein? Muss man an allen Weihnachtsfeiern teilnehmen? Es ist gut, wenn man sich von hohen und evtl. sogar unrealistischen Erwartungen bewusst verabschiedet. Denn: Je größer die Erwartung, umso größer die Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung.

Wir scannen permanent die jeweils aktuelle Gegenwart und gleichen diese innerlich mit unserer Erwartungshaltung ab. Ist der Unterschied zwischen der Realität und der Erwartung gravierend, ist auch der Frust entsprechend groß. Es geht allerdings nicht darum, die Erwartungen gewaltsam herabzudrücken. Weihnachten darf durchaus schön sein.

Familie feiert Weihnachten

Es lohnt sich, sich an die ursprüngliche Message von Weihnachten zu erinnern. Auch wer nicht religiös ist, kann sich mit dieser Kernbotschaft anfreunden: Miteinander, Menschlichkeit, Akzeptanz. Und genau dafür braucht man kein großes Boum-Bäng im Außen, kein Geschenke-Wettrüsten, kein 6-Gänge-Menü. Es darf ein leises, herzliches Beisammensein sein, eine echte Besinnlichkeit. Also, einfach bewusst mal weniger machen.

Berge von Geschenken bescheren niemandem nachhaltig innere Zufriedenheit. Wärme, Wertschätzung und fröhliches Miteinander tun dies. Und es kann so bereichernd sein und riesig Spaß bringen, mit Onkel, Oma und den Nichten eine Runde Twister zu spielen!

Woran erkenne ich, dass ich zu gestresst bin und ein ungesundes Maß erreicht ist? Was sind körperliche Warnsignale?

Die Reaktion des menschlichen Organismus auf Belastungen ist immer sehr individuell. Von Person zu Person und von Situation zu Situation fällt die Stressantwort unterschiedlich aus. Es existieren dennoch eine Reihe sehr typischer Warnsignale:

  1. Die Gedanken fahren Karussell.
  2. Der Schlaf ist gestört: Man kann nicht einschlafen oder wacht mitten in der Nacht hellwach auf.
  3. Stress macht gleichzeitig aber auch müde: Man will lieber schlafen, sich zurückziehen und eher nicht so oft unter Menschen gehen.
  4. Die betroffene Person ist dünnhäutiger, überreagiert, wütend oder weinerlich – und zwar schneller als sonst. Dies ist das Warnsignal, das oft der Partner/ die Partnerin bemerkt.
  5. Der Stoffwechsel ist verändert: Entweder hat man auf einmal keinen Appetit mehr oder aber man giert nach Süßigkeiten (als Belohnung) oder „krachenden“ Knabbereien wie Chips. Das Krachen und Knuspern sorgt tatsächlich für einen gewissen Stressabbau.
Weihnachtsdeko

Was sind Deine allgemeinen Tipps zur Stressbewältigung? Mit welchen einfachen Mitteln kann ich während der Vorweihnachtszeit den Stress reduzieren?

Natürlich ist es wichtig, immer die individuelle Stressreaktion, die Ressourcen und persönlichen Regenerations-Vorlieben im Blick zu haben. Ein paar allgemeine Tipps lauten:

  1. Die Inszenierung von idealen Weihnachten auf Instagram als das verstehen, was es ist: Eine nette Berieselung. Mehr nicht!
  2. Die Wochen vor Weihnachten gut planen: Muss man wirklich jede Weihnachtsfeier, jeden Glühwein-Treff mitnehmen? Wir alle haben nur 24 Stunden am Tag und es ist nicht förderlich für das mentale Gleichgewicht, wenn man permanent auf Hochtouren läuft.
  3. Bewusste kleine Auszeiten setzen:
    • Offline-Zeit am Wochenende nehmen
    • Ein Bad oder eine lange, heiße Dusche genießen
    • Spaziergänge in der Natur jenseits der Menschenmassen machen
    • Im Alltag zwischendurch Ruhemomente zelebrieren

Sowieso gilt es, sich in diesen Wochen wirklich auch mal Ruhe zu gönnen. Der Winter ist die Zeit des Rückzugs, der Einkehr, der Besinnung. Die Natur lebt uns das vor und der menschliche Körper ist Teil dieser Natur. Wir sehnen uns nach Stille und nicht nach Jahresend-Vollgas oder Happy Holiday-Alarm. Winter ist die Zeit, um mal wieder bewusst und lang auszuatmen.

Mann am spazieren im Schnee mit Hund

Über 60% geben in unserer Umfrage an, dass sie das Überlegen und Besorgen von Weihnachtsgeschenken stresst. Was sind Deine Tipps für ein stressfreies Schenken?

Gegenfrage: Müssen gekaufte Geschenke wirklich sein?

Falls ja: Stressfrei Schenken plant man idealerweise in den 11 Monaten vor Weihnachten. Wenn Weihnachten allerdings mal wieder völlig überraschend im Kalender aufploppt und man nur noch wenige Tage Zeit hat, dann sind dies eventuell gute Ideen:

  • Gutscheine für Musikevents, Eventreisen, Abenteuer, Wellness
  • Gutscheine für Personal Coachings (für das Erlernen von Sportarten oder Persönlichkeitsentwicklung)
  • Gutscheine von kleinen, inhabergeführten Läden in der Heimatstadt der zu beschenkenden Person (Mode, Interior, Life Style, Bücher)

Falls doch noch etwas Zeit ist: Wie wäre es mit kreativen Geschenken?

Schokolade
  • Marmelade, Schokolade, Liköre, Seife oder ein Fotobuch selber machen
  • Zeit miteinander verschenken: Gutscheine kreieren für gemeinsames Kochen, Frühjahrs-Picknick, Ausflüge ans Meer – alles wird für die beschenkte Person komplett durchgeplant

Oder aber man stellt den eigentlichen Sinn von Weihnachten in den Vordergrund und leitet das Geld, das man für Geschenke ausgeben will, als Spende an Projekte weiter! Es kann ungemein befriedigend sein, wenn alle Onkeln, Tanten, Eltern, erwachsene Kinder sich jeweils Projekte suchen, die man sich dann gegenseitig präsentieren kann: „Mein Geschenk an Dich ist eine Ziege für das afrikanische Dorf XY, sodass die Kinder dort besser mit Milch versorgt sind.“

Weiterhin stressen über 30% die Weihnachtsmassen auf Weihnachtsmärkten und in Geschäften. Wie komme ich ungestresst durch große Menschenansammlungen?

Ganz klar: Indem ich sie weitestgehend vermeide! Wenn es um das Einkaufen geht, kann es sich lohnen, antizyklisch loszugehen – also nicht mit allen anderen zusammen an den Adventssamstagen um 15 Uhr, sondern lieber gleich morgens, wenn die Läden öffnen. Das gilt für das Geschenke kaufen, wie für den Lebensmitteleinkauf. Letzteren sollte man eh langfristiger planen, um zum Beispiel in der Woche direkt vor Weihnachten immer morgens vor der Arbeit Lebensmittel zu besorgen. Oder aber man plant die Fahrt zu einem Bauernhof, um direkt vor Ort Gemüse, Fleisch und Fisch vom Erzeuger zu kaufen.

Voller Weihnachtsmarkt

Und falls man sich doch mit der halben Stadt am 23.12. im Supermarkt trifft und die Schlangen an den Kassen bis zum anderen Ende des Marktes reichen: Akzeptieren, dass es nun dummerweise so ist. Mein Tipp: Man kann sich im Zeitschriftenregal ein Magazin schnappen und während des Wartens den neuesten Gossip lesen – oder mit dem netten Menschen in der Nachbarschlange plaudern.

Und mit Blick auf die Weihnachtsmärkte ist die Eigenverantwortung eines jeden Menschen gefragt: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Ausflug auf diese Märkte von Trubel begleitet ist. Es ist die eigene Entscheidung, ob man das will. Vermessen wäre es zu sagen: „Ich geh’ auf den Weihnachtsmarkt und dann soll es aber bitteschön schön leer bleiben.“ Äußere Bedingungen wie die Menschenmassen auf den Weihnachtsmärkten können wir lediglich so akzeptieren, wie sie sind. Vielleicht hilft aber bei der Frage auch die bereits weiter oben erwähnte Zeitplanung: Wenn man lediglich zwei bis drei Ausflüge auf den Weihnachtsmarkt einplant, ist es insgesamt eventuell erträglicher, als wenn man jeden zweiten Tag loszieht.

Was kann ich tun, um meine Resilienz zu stärken und es vielleicht gar nicht erst zum Stress kommen zu lassen?

Wichtig ist zu verstehen, dass der Mensch grundsätzlich immer von Stress begleitet wird im Leben. Und Stress ist per sé auch nichts Schlimmes.

Schlimm wird es nur mit den Belastungen, wenn wir davon überrollt werden, wenn es zu viel ist und wir das Gefühl haben, keine Bewältigungsmöglichkeiten zu haben. Oft kommt es zu dieser Gefühlsgemengelage, wenn wir zuvor über eine längere Zeit wenig in Kontakt mit uns selbst waren. Man könnte auch sagen, wenn wir uns in gewisser Weise selbst verloren haben.

Damit es nicht dazu kommt, können kleine Breaks mitten im Alltag helfen, immer wieder im Kontakt mit sich selbst zu sein, um so auch prüfen zu können, wie es einem gerade geht und was man gegebenenfalls braucht (damit es einem besser geht).

Diese Breaks darf man gern wie eine Tablette verstehen. Wenn der Arzt sagt „3 x täglich eine Tablette“, halten wir uns in der Regel genau daran. Genauso darf man auch diese Breaks einsetzen. Zwei- bis dreimal täglich sich bewusst Zeit für sich nehmen – und zwar lediglich für einen kurzen Moment, vielleicht für ein paar Atemzüge oder eine Tasse Tee am Fenster.

Außerdem sollte die regelmäßige moderate Bewegung nicht außer Acht gelassen werden: Der forsche Spaziergang in der Mittagspause, die Joggingrunde vor der Arbeit oder die Fahrradtour versorgen einen mit frischer Luft und zugleich können Stresshormone abgebaut werden. Wer kein Fan von kalter Winterluft ist, findet im Fitness-Studio Alternativen.

Frau meditiert an Weihnachten

Es klingt banal, aber: Man sollte auch nicht das vollständige Atmen vergessen. Gerade wenn man Stress hat, schleichen sich gern ungesunde Atemmuster ein, die möglicherweise zu einer Dauergewohnheit werden. Unter Stress atmen wir oft zu flach und atmen nicht mehr vernünftig aus. Eine tiefe und vollständige Ausatmung ist jedoch wichtig, um in einen entspannteren Zustand (zurück) zu finden. Es lohnt sich, ein Atemritual einzuführen: Einmal täglich, vielleicht abends vor dem Schlafen, die Hände auf den Bauch legen und immer wieder bewusst ausatmen.

Wer tiefer einsteigen will, der sollte sich zum Beispiel mit Yoga oder progressiver Muskelentspannung beschäftigen, um die Entspannungsfähigkeit zu steigern. Außerdem lohnt es sich, sich mit seinen inneren Antreibern zu beschäftigen: Denn diese fiesen, kleinen Stimmen schmettern uns gern Befehle an den Kopf wie „Es muss perfekt sein.“ Oder „Du musst es allen recht machen.“ und tragen damit zur Überforderung bei.

Ein hoher Stresspegel in der Vorweihnachtszeit sowie die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage birgt die Gefahr, in Streitigkeiten am Weihnachtsfest zu gipfeln.  Wie kann ich verhindern, dass es zur Eskalation unter dem Weihnachtsbaum kommt?

Weihnachten ist das Fest der Nächstenliebe, Beziehung und Kommunikation stehen im Mittelpunkt für viele. Ist auch hier unsere Erwartungshaltung zu groß, eskaliert es nicht selten – ganz besonders, wenn ohnehin Konflikte unter der Decke schwelen. Das Verhalten anderer können wir nicht verändern, wohl aber unser eigenes. Die Anderen können wir nur akzeptieren, wie sie sind – um dann das Beste draus zu machen. Vielleicht ein wenig so wie der Film „Merry Christmas“ aus dem Jahr 2005 es vormacht: Einen kleinen Frieden erzeugen im großen Krieg. Diesen Weihnachtsfrieden an der deutsch-französischen Kriegsfront im 1. Weltkrieg soll es wirklich gegeben haben.

Ja, wir alle haben ein Bedürfnis nach Nähe, Weihnachten ist ein Synonym dafür. Doch sollte man bedenken, dass man einen bestehenden Konflikt, der womöglich permanent gedeckelt wird, nicht mal eben zu Weihnachten lösen wird. Das Gegenteil ist oft der Fall: Unter all dem Weihnachtsdruck schießen die Gefühle über und der schwelende Konflikt wird unter dem Weihnachtsbaum ausgetragen. Wir haben jedoch die Wahl: Den sehr bewussten, kleinen Frieden für einen Tag oder aber man ist konsequent und entscheidet sich gegen die gemeinsame Zeit. Was sich besser anfühlt, kann jeder Mensch für sich entscheiden. Und am Konflikt können alle direkt nach Weihnachten zwölf Monate lang arbeiten – damit das Folge-Weihnachten sich ganz anders anfühlt.

Und zum Schluss: Wie gelingt es Dir selbst stressfreier zu leben?

Mit Blick auf Weihnachten lebe ich das zuvor Beschriebene. In meiner Familie zum Beispiel schenken wir uns schon eine Weile nichts mehr zu Weihnachten. Stattdessen spenden wir, um Bedürftigen ein bisschen zu helfen.

Und grundsätzlich war und ist das stressfreiere Leben ein Prozess im Großen wie im Kleinen für mich: Eine Auseinandersetzung mit meinen mir innewohnenden Werten hat dazu geführt, dass ich mein Angestelltendasein an den Nagel gehängt und mich selbständig gemacht habe. Denn diese Form des Arbeitens passt deutlich besser zu meiner Persönlichkeit. Freiheit ist der Nordstern meiner inneren Werte. Der will gelebt werden.

Darüber hinaus setze ich mich mit meinen inneren Kritikern regelmäßig auseinander. Meinen Perfektionsdrang habe ich deshalb mittlerweile super im Griff. Und mit meinen vermeintlichen Fehlern und Unzulänglichkeiten gehe ich sanft um. Es bringt mir zum Beispiel überhaupt nichts, gegen meine Legasthenie anzukämpfen. Ich akzeptiere sie als das, was sie ist: ein Teil von mir – nicht mehr und nicht weniger. Immer wieder schaue ich bewusst auf meinen Alltag, um an der einen oder anderen Stellschraube zu drehen, Dinge auszuprobieren und wahrzunehmen, wie sich die jeweilige Veränderung anfühlt. Hier existiert für mich auch kein Zielpunkt, sondern vielmehr ist der permanente, achtsame Prozess des selbst fürsorglichen Umgangs mit mir selbst das Ziel, das nie aufhört.

Liebe Julia, vielen Dank für das ausführliche Interview und viel Erfolg weiterhin mit Deiner Arbeit und Deinem Blog!

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